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Für klare Begriffe in unklaren Zeiten
156 Jahre Faschismus? Für klare Begriffe in unklaren Zeiten
von Bernd Rother, Kristina Meyer & Christina Morina, 25. März 2020
Nur wenige Stunden nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD-Fraktion hing am Willy-Brandt-Haus ein Banner mit dem Satz „Für uns gilt seit 156 Jahren – Kein Fußbreit dem Faschismus!“. Zeitgleich wurde die Parole auf die Startseite der SPD-Homepage gestellt. Die Resonanz darauf war dem Vernehmen nach enorm: Die Klickzahlen lagen deutlich höher als sonst. Unter historisch Informierten (nicht nur unter Geschichtswissenschaftler*innen) provozierte der Slogan aber kaum Begeisterung, dafür ein weitverbreitetes Kopfschütteln, und auch in den Medien (vgl. z.B. DerTagesspiegel, 13.3.2020) stand nicht das eigentliche Anliegen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die vermeintliche historische Unbedarftheit des SPD-Parteivorstands. Die faschistische Bewegung soll 156 Jahre alt sein? Bei Marx und Engels, bei Bernstein und Bebel hätte der Begriff „Faschismus“ größtes Rätselraten hervorgerufen, denn erst seit gut 100 Jahren, seit der Gründung der Fasci italiani di combattimento durch Benito Mussolini in Italien, gibt es „Faschisten“. Obwohl das SPD-Geschichtsforum umgehend auf den fragwürdigen historischen Kern des Slogans aufmerksam machte, dauerte es weit mehr als eine Woche, bis die Parteizentrale reagierte und den „156 Jahre“-Slogan – kommentarlos – von Hauswand und Homepage entfernte.
Aber vielen Kritiker*innen geht es um mehr als um Gedankenlosigkeit, historische Ungenauigkeit und semantische Kosmetik. Bei der Titulierung politischer Strömungen rechts von der CDU/CSU lässt sich (nicht nur) in der SPD eine zunehmende Tendenz zur Beliebigkeit und Simplifizierung beobachten. Das Label „Faschist“ erlebt seit einiger Zeit ein bemerkenswertes Revival; eine einfache GoogleTrends-Analyse der letzten fünf Jahre zeigt die Höhepunkte im Frühjahr 2017 und die Zeit seit dem Herbst 2019. Es scheint, als würden die politischen Kontrahenten geradezu erleichtert in die alten „semantischen Kämpfe“ (Koselleck) mit den vertrauten Schlagworten und Frontlinien zurückfallen. Man meint damit offenbar historisch (und emotional) gefütterte Schlagkraft zu gewinnen, verschleiert aber zugleich einen Mangel an eigenständiger Analysearbeit und sprachlicher Präzision in Bezug auf die gegenwärtigen Zustände. Ähnliches gilt im Übrigen für den Begriff des „Antifaschismus“, den die SPD für die Zeit vor 1945 mit gutem Recht beanspruchen kann und soll, der nach dem Zweiten Weltkrieg aber durch seine unselige Verknüpfung mit kommunistischen Staatsideologien gewissermaßen seine politische Unschuld verloren hat. Er ist aus teils vergleichbaren, teils anders gelagerten Gründen für den heutigen politischen Diskurs ebenso ungeeignet wie der „Faschismus“-Begriff.
Auch in der SPD wird „Faschismus“ jüngst immer häufiger verwendet, offenbar um maximale Abgrenzung und Verurteilung zum Ausdruck zu bringen. Ein kurzer Blick in die Pressemitteilungen des Parteivorstands aus den letzten Jahren zeigt den Vormarsch dieses größten verbalen „Hammers“. Was ist daran problematisch? Nehmen wir die Pressemitteilung des PV vom 20. März 2019. Sie beginnt mit dem Satz: „Mit der Errichtung einer Gedenkstele in der Gedenkstätte Sachsenhausen will die Sozialdemokratische Partei Deutschlands an die Opfer der faschistischen Gewaltherrschaft erinnern.“ Wer dies schreibt, weiß sicherlich um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmords, verwischt aber zugleich die qualitativen Unterschiede zwischen italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus (und benutzt mit der Rede von der „faschistischen Gewaltherrschaft“ nicht zuletzt eine der gängigsten Formeln der SED-Geschichtspropaganda). Die Differenzierung zwischen (italienischem) Faschismus und (deutschen) Nationalsozialismus ist aber unerlässlich, sie hat in der historischen und politikwissenschaftlichen Forschung eine jahrzehntlange, auch empirisch gefestigte Tradition. Kurzgefasst: Für Faschisten waren der Antimarxismus und die radikale Ablehnung der Demokratie die wichtigsten Punkte ihrer Ideologie. Nationalsozialisten teilten diese Haltung, aber beides wurde überragt durch eine radikal völkische und zutiefst rassistische Weltanschauung und einen auf Vernichtung „unwerter“ Menschengruppen zielenden Antisemitismus. Die faschistischen Bewegungen und Regime des 20. Jahrhunderts machten sich Ideologie und Praxis des Antisemitismus nur teilweise zu eigen; der Nationalsozialismus hingegen war nicht denkbar ohne den radikalen Antisemitismus, der seinen ideologischen Kern bildete: Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden ist das „Alleinstellungsmerkmal“ des Nationalsozialismus.
Ein zweites Problem kommt hinzu, das zwingend mit der umstandslosen, also unreflektierten, Wiederbelebung von SED-Formeln zu Tage tritt: Eine begriffliche Gleichsetzung des „Faschismus“ mit dem „Dritten Reich“ knüpft unweigerlich an die Tradition der „Dimitroff-Formel“ der 1930er Jahre an, die den Nationalsozialismus auf eine „Terrorherrschaft“ im alleinigen Interesse des „Monopolkapitals“ verengte und dabei den Antisemitismus samt seiner eben nicht nur ökonomischen, sondern breiten gesellschaftlichen Grundlage systematisch unterschätzte und, ja: verharmloste. Wer in DDR-Publikationen und in manch linke (sprich: antikapitalistische) westdeutsche Veröffentlichungen v.a. der 1970er Jahre schaut, bekommt vor Augen geführt, wie verbreitet diese eindimensionale Lesart von Faschismus und Nationalsozialismus und deren Gleichsetzung war – und wie langlebig offenbar immer noch ist. Wer aber von den gesellschaftlichen Grundlagen des Nationalsozialismus nicht reden will, sollte vom „Nie wieder“ schweigen.
Ungenauigkeit in der Wahl der Begriffe trübt aber nicht nur den Blick in die Vergangenheit, sondern auch den Blick auf unsere Gegenwart. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob der sich gerade in organisatorischer (aber gewiss nicht weltanschaulicher) „Auflösung“ befindliche „Flügel“ der AfD als „faschistisch“, „völkisch“ oder „neo-nazistisch“ zu bezeichnen ist – juristische Urteile sind kein Ersatz für politische Beurteilung. Aber die verbreitete und pauschalisierende Bezeichnung von Politiker*innen und Anhänger*innen der AfD als „Faschisten“ oder „Nazis“ erschwert es erheblich, das Wesen dieser Partei, ihre Programmatik und auch ihren Erfolg zu verstehen, geschweige denn, sie erfolgreich zu bekämpfen. Wohlgemerkt: Es geht nicht um Exkulpation oder vermeintliche Rücksichtnahme auf eine sich zweifellos weit rechts außen bewegende Partei. Es geht um eine ebenso angemessene wie zutreffende Analyse als Grundlage für effektive Gegenwehr. Und da helfen weder vereinfachende Schlagworte noch der unreflektierte, explizite oder implizite Bezug auf historische Begriffe und Diskurse.
Differenziertheit bei der Wahl der Begriffe hindert uns nicht daran, scharf zu kritisieren, dass jede/r AfD-Wähler*in mit seiner oder ihrer Stimme auch den „Flügel“ unterstützt und einer zunehmend illiberal-antidemokratischen Partei den Weg ebnet. In der AfD haben sich neben EU-Kritikern, Renegaten der einstigen CDU- „Stahlhelmfraktion“, Rechtspopulisten und Deutschnationalen längst auch Neurechte, Identitäre, Völkische und zweifellos auch Neonationalsozialisten zusammengefunden, aber man kann und sollte sie immer noch genau so differenziert auseinanderhalten – und sie vor allem auf der Grundlage ihres gegenwärtigen Denkens und Handelns bekämpfen, statt durch plakative und ahistorische Gleichsetzungen. Zu fragen ist etwa, warum und mit welchen Prämissen und Zielen die AfD eher von „Gemeinschaft“ statt von Gesellschaft redet, von „Bewegung“ statt von Partei und von „Volk“ statt von Bevölkerung. Wer sich „keinen Begriff“ (oder einen falschen) vom Gegner macht, wird diesen nicht verstehen und damit auch nicht wissen können, wie gegen ihn anzutreten ist.
Worauf sich die SPD zu Recht berufen kann, ist der mehr als 150-jährige programmatische Einsatz gegen Nationalismus, Autoritarismus und Unterdrückung – und für Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Darauf sollte sich die Partei in ihrer Geschichtspolitik und Öffentlichkeitsarbeit nicht nur stets besinnen, sondern diese Tradition auch immer wieder kritisch befragen. Umso fundierter lässt sich aus ihr für die Kämpfe der Gegenwart und Zukunft schöpfen.